Untersuchungen zum Gesundheitsstatus des Seehundes

von Dr. Michael Stede  (Stand/Datum – ? -)
Zusammenfassung
Es werden die Ergebnisse von aktuellen Erhebungen über das Vorkommen von Blut- und Sekretspuren an repräsentativ ausgewählten Seehundsänden  des niedersächsischen Wattenmeeres vorgelegt und als Indikator für den Gesundheitsstatus der Population bewertet.
Im Durchschnitt wurden in 1,5 Prozent (max. 3,8 Prozent, min. 0,9 Prozent) der untersuchten Fluchtspuren Blut und Sekrete festgestellt. Im Vergleich zu Untersuchungen, die etwa 20 Jahre zurückliegen, ist dies eine Verringerung mindestens um den Faktor 10. Die erreichte Bestandsgröße hat sich offensichtlich nicht nachteilig auf den Gesundheitsstatus der Seehundpopulation ausgewirkt.
Einleitung
In der 18. Dokumentation „Seehunde und Meeressäuger“ 1999 wurde das Seehundmonitoring für das niedersächsische Wattenmeer vorgestellt. Es soll dazu dienen, aus Untersuchungen bestimmter Seehundrudel konkrete Anhaltspunkte über den Gesundheitsstatus der Seehundpopulation vor der niedersächsischen Nordseeküste abzuleiten. Die untersuchten Seehundrudel sollten deshalb hinsichtlich ihres unmittelbaren Lebensraumes weitgehend repräsentativ für einem großen Teil der Seehundpopulation sein.
In den nachfolgenden Ausführungen werden die Untersuchungen auf Blut- und Sekretspuren in den Liegemulden und Fluchtspuren von Seehunden vorgestellt. Das Auffinden von Blut außerhalb des Körpers ist stets ein Zeichen von Zusammenhangstrennungen oder pathologischen Zuständen an inneren oder äußeren Körperoberflächen, abgesehen von den physiologischen (normalen) Vorgängen bei weiblichen Tieren, die im Zusammenhang mit der Geburt stehen. Von dieser Ausnahme abgesehen, weist Blut in den Liegemulden und Fluchtspuren also immer auf krankhafte Zustände hin.
Eigene, fast 20 Jahre zurückliegende orientierende Untersuchungen sowie Literaturangaben belegen, dass damals der Anteil von Seehunden mit offenen Hauterkrankungen zwischen 10 und 20 Prozent an der Gesamtpopulation angenommen werden konnte. Aktuelle Untersuchungen vor dem Hintergrund eines sich ständig vergrößernden Seehundbestandes und mögliche Auswirkungen dieser Entwicklung auf den Gesundheitszustand sind zwingend erforderlich.
Untersuchungsgebiet
Das Watt vor dem Landkreis Cuxhaven wurde als Untersuchungsgebiet wegen seiner guten Erreichbarkeit, seines großen Seehundbestandes und seines nahezu einheitlichen Charakters als zur freien See hin offenes Gebiet ausgewählt. Vergleichbare Verhältnisse liegen im Borkum/Außenemsbereich und mit geringen Einschränkungen für das Wattengebiet des Hohen Weges zwischen Jade und Weser vor. (Die Bezeichnungen der untersuchten Seehundsände sind der Tabelle zu entnehmen.)
Untersuchungsmethode
Die Methodik der Untersuchungen wurde in der Dokumentation 1999 ausführlich beschrieben.
Die Untersuchungen werden hauptsächlich während der Zeit des Haarwechsels von Ende Juli bis Mitte Oktober  durchgeführt, wobei der Schwerpunkt der Arbeiten im September liegt. Hervorzuheben ist, daß bei der Anfahrt an den Sand das Fluchtverhalten der Tiere beobachtet werden muss, um Hinweise auf kranke Tiere zu erhalten. Diese weisen ein von der Mehrzahl der Tiere abweichendes Fluchtverhalten auf, wie zum Beispiel verzögerte Flucht mit mehr oder weniger häufigen Unterbrechungen, Art des Einsatz der Vorderflossen beim Robben, Flucht mit aufgekrümmtem Rücken und anderes mehr.
Die Fluchtspuren dieser Tiere müssen möglichst schnell für die Untersuchung erreicht werden, um Informationsverluste durch Überdecken der Spur mit Treibsand zu verhindern. Bereits unter mäßigen Winden kann dies insgesamt bei allen Fluchtspuren ein Problem werden.
Die Anfahrt und das Anlegen am Sand hat zügig aber so weit zurückhaltend zu erfolgen, daß die Tiere das näherkommende Boot als Gefahr einordnen können und nicht in Panik überstürzt ins Wasser ausweichen werden. Meist bleibt das Rudel in der Nähe des Sandes und nimmt ihn nach Abschluß der Untersuchungen wieder an.
Während der Untersuchungen muss bei dem ins Wasser ausweichenden Seehundrudel auf hustende Tiere geachtet werden, denen eventuell auf dem Sand gefundene Auswurfsekrete zugeordnet werden können.
Das Untersuchungsteam sollte drei Personen umfassen, die in breiter Front etwa spülsaum-parallel die Fluchtspuren in ihrer gesamten Länge untersuchen. Die gesamte Spur eines Seehundes am Sand besteht aus einer ankommenden und einer Fluchtspur. Dazwischen befinden sich eine oder mehrere Liegemulden, die während des Haarwechsels durch Scheuern der Tiere auf dem Sand besonders ausgeprägt sind.
Für die Untersuchungen geeignet sind überwiegend nur die frische Fluchtspur und die letzte Liegemulde. Alle anderen Spuren sind meist durch feinen Treibsand überdeckt.
Ergebnisse
In Tabelle 1 sind die Ergebnisse der aktuellen Untersuchungen von Seehundrudeln an ausgewählten Sänden summarisch dargestellt und zeigt ferner die Situation an bestimmten Sänden zwischen 1981 und 1982 im Wattenbereich von Borkum und zwischen Weser und Elbe.
Die Blutspuren stellen sich sehr unterschiedlich auf dem Sand dar als:
Blutpunkt vom Durchmesser eines Stecknadelkopfes;
– fast kreisrunder Tropfen von bis zu einem Zentimeter Durchmesser;
– unregelmäßige wie verwehte Tropfen unterschiedlicher Größe;
– unregelmäßige Flecken mit Schorf und Eiteranteilen von ca. zwei bis drei Zentimeter Durchmesser.
Die Fluchtspur von Seehunden kann sehr unterschiedlich gestaltet sein je nach individuellem Fluchtverlauf, Geschlecht, Verletzungen oder inneren Erkrankungen, die die Körperhaltung beeinflussen. Zur Fluchtspur gehören die Kralleneingriffe der Vorderflossen, der Abdruck der Kante der Vorderflosse und der Eindruck im Sand, den der Bauch hinterläßt. Mitten im Baucheindruck ist sehr oft ein ca. zehn Zentimeter langer unterschiedlich breiter und strichförmiger Abdruck vorhanden. Er kann dem Penisknochen von adulten männlichen Tieren zugeordnet werden, der bei den mageren Tieren des Spätsommers am Unterbauch besonders gut auf weichem Untergrund hervortritt.
Die Position der Blut- und Sekretflecken in der Liegemulde und in der Fluchtspur kann sich befinden:
– im Randbereich der Liegemulde;
– etwa in der Mitte des Spurbildes;
– im Bereich der Kralleneingriffe der Vorderflossen;
– neben der Spur;
– regelmäßig im Verlauf der Bauchspur;
– wenige Tropfen verteilt über den Beginn oder das Ende der Spur am Spülsaum;
– nur ein stecknadelkopfgroßes Tröpfchen im Verlauf der Spur.
Die Blut- und Sekretspuren stammen überwiegend von geschwürigen Veränderungen der Bauchregion, von offenen Veränderungen im Krallenbereich der Vorderflossen und von Bißwunden des Kopf- und Halsbereichs oder an den Hintergliedmaßen männlicher Tiere besonders während der Paarungszeit.
Besprechung und Bewertung der Ergebnisse
Offene Geschwüre in der Nabelregion gehörten in den früheren Jahrzehnten zu den allgemein bekannten Hauterkrankungen, auch Nabelräude genannt, besonders der jungen Seehunde.
In Untersuchungen von DRESCHER (Universität Kiel, 1978) wurde vor mehr als 20 Jahren ein Anteil mit solchen Hautläsionen von ca. 15 Prozent des Gesamtbestandes vor Schleswig-Holstein angegeben. Wenige Jahre später durchgeführte eigene orientierende Untersuchungen im niedersächsischen Wattenmeer (Tabelle 1) bestätigten in der Tendenz diese Ergebnisse. Zudem wurde für diesen Zeitraum ein Jungtierverlust von bis zu 60 Prozent des jeweiligen Aufzuchtjahrganges angenommen. Unter Berücksichtigung des von Jahr zu Jahr sich damals fortsetzenden Rückganges der Bestandszahlen war diese Feststellungen besorgniserregend. Es war deshalb notwendig, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um das tatsächliche Ausmaß der Gefährdung des Seehundbestandes durch Krankheiten zu erkennen und über einen längeren Zeitraum zu verfolgen mit dem Ziel, Anhaltspunkte für geeignete Schutzmaßnahmen zu erhalten. Die Untersuchungen von WIPPER (Diss. Uni München, 1974) zeigten deutlich, daß Störungen an den Sänden in direktem Zusammenhang mit den beobachteten schweren Hautveränderungen stehen. Die Ergebnisse des Monitorings des Gesundheitsstatus können deshalb bei den Erörterungen über die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen hilfreich sein.
Das systematische Einfangen von Seehunden für eine klinische Untersuchung würde theoretisch zum Ziel führen, wenn es gelänge, Seehunde in ausreichend großer Zahl unter vertretbarem Aufwand im Wattenmeer zu fangen. Solche Fangaktionen sind aber nur für einzelne besondere Fragestellungen wegen ihres extremen Aufwandes und der erheblichen Störungen an den Sänden vertretbar.
Störungen des zu untersuchenden Rudels sind auch mit diesem hier beschriebenen Verfahren nicht zu vermeiden. Sie sind aber vom Untersuchungsteam dadurch in Grenzen zu halten, daß der Seehundliegeplatz in seinem Randbereich angefahren wird. Dies veranlaßt die Mehrzahl der Tiere zu einer verhaltenen Flucht und ermöglicht den Untersuchern, die Kondition, den Status des Haarwechsels und das Fluchtverhalten zu begutachten.
Der Untersuchungszeitraum beginnt im Spätsommer und wird witterungsbedingt etwa Mitte Oktober abgeschlossen. In dieser Zeit findet die Paarung und der Haarwechsel statt: Die Jungtiere sind – ? – kralleneinselbständig geworden und erfahren ihre erste  Belastung durch innere Parasiten. Es ist also ein Zeitraum der Unruhe und erheblicher gesundheitlicher Belastungen für die gesamte Population. Gesundheitliche Probleme sind also besonders in dieser Zeit zu finden.
Dies äußert sich auch in dem deutlich höheren Ruhebedürfnis der Tiere. Erhebungen über Art und Umfang gesundheitlicher Probleme in der Seehundpopulation sind deshalb in dieser Jahreszeit von besonderer Bedeutung für Aussagen über den Gesundheitsstatus der Seehundpopulation.
Das Untersuchungsgebiet ist ein zur freien See hin offenes Wattengebiet. Die Wattengebiete des Hohen Weges und im Ems-Borkum-Bereich unterliegen ebenfalls dem Einfluß der freien See. Das Untersuchungsgebiet kann somit als repräsentativ für einen erheblichen Teil des niedersächsischen Wattenmeeres angesehen werden. Das ostfriesische Wattengebiet hinter den Inseln Norderney bis Wangerooge (Rückseitenwatt) weist andere Verhältnisse bezüglich des Wasser- und Energieeintrages von der freien See her auf und wurde deshalb in diese Untersuchungen nicht einbezogen. Die Aussagen über den Seehundbestand in den freien Seewatten können nicht ungeprüft auf den Seehundbestand der Rückseitenwatten übertragen werden.
Hierzu sind weitere vergleichende Untersuchungen notwendig.
Wenn man davon ausgeht, daß aufgrund jahrzehntelanger Beobachtungen besonders in ihrem Allgemeinbefinden gestörte Tiere die Sände aufsuchen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß praktisch alle in ihrem Allgemeinbefinden gestörten Seehunde an den Sänden erfaßt wurden.
Aus der Vielzahl der an den Sänden zu erhebenden Daten werden hier Erhebungen über Blut und Sekretspuren an den Seehundsänden dargestellt. Diese stammen bei männlichen Tieren von Bißwunden im Hals- und Kopfbereich oder an den Hintergliedmaßen. Sie führen in vielen Fällen zu septischen Allgemeinerkrankungen und schließlich zum Tod der Tiere, wie Sektionsergebnisse zeigen.
Bei schweren Erkrankungen der Atemwege und der Lungen können spezifische Sekretmassen als Auswurf auf den Sänden vorkommen, was aber bisher nur im Zusammenhang mit der Seehundstaupeepidemie 1988 regelmäßig beobachtet wurde.
Geschwüre in der Nabelregion bei jungen Seehunden gehören zu den wesentlichen Todesursachen dieser Altersklasse. Bei ausgedehnten Entzündungsvorgängen besonders der Haut sind unter anderem auch Sekrete und Schorf unterschiedlicher Zusammensetzung und Menge auf dem Sand zu finden. Diese Nabelgeschwüre können während des Winters vernarben, brechen dann aber im Sommer in ihren Randbereichen wieder auf, um im darauffolgenden Winter wieder abzuheilen. Aus diesem Wechsel zwischen offener und vernarbter (geschlossener) Phase entstehen jahresringartige Narbenstrukturen der Bauchhaut. Irgendwann bricht die Resistenz des betroffenen Tieres gegen diesen ständigen Infektionsdruck zusammen, und es verendet an einer Sepsis.
Bei älteren Tieren sind auch Blutspuren in den Kralleneinselbständig griffen der Vorderflosse zu finden, die von tiefgreifenden pathologischen Prozessen verursacht werden.
Die Zuordnung der Blutspuren zu Körperregionen ist oft kaum möglich, wenn das Blut durch die Bewegung des Tieres (Flucht) unregelmäßig über den Sand verteilt wird.
Die in den Jahren 1997 bis 2000 durchgeführten Untersuchungen (Tabelle 1) zeigen ein günstiges Bild für diesen Zeitraum mit einem Anteil von durchschnittlich 1,5 Prozent der untersuchten Spuren, die Blut und Sekrete enthielten im Vergleich zu den Ergebnissen aus frühen 80er Jahren. Daraus darf mit Vorsicht auch auf eine verringerte Sterblichkeit im Verlauf des ersten Lebensjahres geschlossen werden, was wiederum im Einklang mit der äußerst positiven Bestandsentwicklung in den vergangenen Jahren steht.
Es ist nicht zu erwarten, daß diese positive Entwicklung in den kommenden Jahren erhalten bleibt.
Durch ständig wachsende Bestandszahlen wird die soziale und epidemiologische Situation an den optimalen Seehundsänden fortlaufend ungünstiger. Im Fall eines überdurchschnittlich warmen Sommers kann es bei den Jungtieren wegen der hohen temperaturabhängigen mikrobiellen Hintergrundbelastung des Wassers zu einem Anstieg der Jungtiersterblichkeit durch vermehrte Hauterkrankungen in der Nabelregion kommen. Es ist insgesamt damit zu rechnen, daß in den kommenden Jahren wegen der hohen Tierdichte an den Sänden eine Häufung von Krankheiten eintritt.
Unter den Gesichtspunkten der Vorsorge und des jährlich wachsenden Bestandes wird es notwendig sein, das Seehundmonitoring zu intensivieren, auch wenn zur Zeit von zuständiger Seite angesichts eines offensichtlich gesicherten Seehundbestandes eher eine Zurücknahme der Aufwendungen für den Seehundschutz angestrebt und zum Teil durchgeführt wird. Diese Intentionen stehen im Widerspruch zum Status des Seehundes als Tier von besonderem öffentlichen Interesse, das als Symbol für eine gesunde Meeresumwelt steht.
 

Sand/Region ∑-Spuren
1997-2000
∑-Blut-/
Sekretspuren
= % von
∑-Spuren
Robbenplate(Weser) 93 2 2,2
Tegeler Plate 1196 11 0,9
Kl. Knechtsände 668 13 1,9
Hohe Hörn Sände 184 7 3,8
Spiekaer Barre 117 1 0,9
Robbenplate(westl. Scharhörn) 204 3 1,5
∑   2462 37 1,5
Borkum Riff (1981) 34 7 20,6
Randzelgatt (1981) 7 1 14,3
Spitzsand/Elbe (1981) 58 8 13,8
Hohe Hörn Sände (1983) 85 12 14,1
∑   184 28 15,2

Tabelle 1
Untersuchungen von Liegeflächen und Fluchtspuren im Wattengebiet Wesermünde /Cuxhaven zwischen 1997 und 2000 und orientierend 1981/83 an verschiedenen Sänden.