Mensch und Tier - 03/2000 - Seiten 30-32

 

Die Heuler von Norden-Norddeich

 

Unkenntnis, Ignoranz, Witterung und Schicksalsschläge haben verursacht, dass bei der Seehundaufzucht- und Forschungsstation in Norden-Norddeich,in der „Heulersaison 2000“ schon rund sechzig Mal die Meldung einging: Verwaister Seehund gefunden! 

 

Ein Bericht von Gina Barth-Muth  

Fotos: Walther Rohdich

Ankunft eines jungen Seehunds gehört zum Alltag der Seehundaufzucht- und Forschungsstation Norden-Norddeich. Und doch ist jeder Fall ein besonderer Fall. Der Kampf um jeden einzelnen Seehundwaisen, der realistische Chancen hat, wird mit Akribie betrieben und dem festen Vorhaben, dieses Tier in Bälde als selbständig und absolut überlebensfähig dem Meer wieder anzuvertrauen. Dieses Ansinnen realisiert sich zu stattlichen 99 Prozent. Doch bis dahin ist ein ungeheurer Einsatz nötig, an dessen Ende oft die relativ gelungene Wiedergutmachung des Menschen für das Fehlverhalten des Menschen steht: Relativ, weil kein Mensch, selbst bei bester Versorgung des Tieres, seiner Pflege und einem perfekten Know-how das ersetzen kann, was den Heulern von Norden-Norddeich genommen wurde: Die Mutter. Wiedergutmachung, weil es oft der Mensch ist, der die Heuler zu Waisen macht.

 

   

Die „Waisenmacher“

Lautstarke Sportboote, die zu schnell und zu nah an die Seehundbänke heranfahren, nicht geführte Wattwanderungen und besorgte Tierfreunde, die voreilig einschreiten und vermeintlich mutterlose Seehunde von den Sandbänken „retten“, greifen stark in die Natur ein und sorgen mitunter mehr noch als die Natur selbst dafür, dass die Heuler Hilfe bedürfen. Natürliche Katastrophen für einen jungen Seehund sind unter anderem der Tod der Mutter, starke Stürme und heftige Sommergewitter. Durch solche Schicksalsschläge verwaiste Heuler sind dringend auf die Hilfe des Menschen angewiesen. Anders steht es laut Peter Lienau, Geschäftsführer der Seehundaufzucht­ und Forschungsstation Norden-Norddeich, um die Heuler, die von ihren Müttern für geraume Zeit auf einer Sandbank zurück gelassen wurden, während sie selbst auf Nahrungssuche sind. „Wenn diese Tiere von Menschen aufgenommen und an Land gebracht werden, gibt es kaum mehr ein Zurück“, erklärt Peter  Lienau. Wenn Fundort und Umstände des Fundes nicht ganz genau bekannt sind, muss der Heuler in der Seehundaufzucht- und Forschungsstation aufgenommen werden. Seine Mutter gibt „in Kenntnis der Natur“ und gesteuert durch ihren eigenen Erhaltungstrieb, oder besser gesagt, instinktiv, nach einigen Stunden die Suche nach ihrem Jungen auf. Sie kennt die Gezeiten und die Hoffnungslosigkeit, in derart bewegten Meeren nach ihrem Jungen zu suchen, das sie weder sehen noch dessen typische Rufe sie hören kann, die den jungen Seehunden die Bezeichnung Heuler verliehen haben. Und genau dieses Heulen sowie das betörende Aussehen der jungen Seehunde wird den Jungtieren gelegentlich zum Verhängnis. Denn es weckt auch im Menschen den Beschützertrieb, der manchmal kontraproduktives Handeln zur Folge hat. Vorwürfe macht den „Rettern“, die zu voreilig zur Tat geschritten sind, in Norden-Norddeich niemand. „Die Leute meinen es gut. Sie sehen ein klagendes Jungtier und wollen helfen. Das begrüßen wir natürlich, nur die Art der Hilfe ist manchmal ein Bärendienst. Es fehlt an Aufklärung. Seehundemütter sind sehr fürsorglich. Sie lassen ihre Jungen nicht allzu lange alleine. Wer sich zurückzieht und aus großer Distanz in aller Ruhe beobachtet, wird bald sehen, dass die Mutter zurückkehrt. Doch die Sorge um das Junge macht oft ungeduldig“, beklagt Peter Lienau. „Anstatt gleich zuzupacken und den Heuler aufzunehmen, sollte man uns oder eine Po­lizeidienststelle informieren.“

 

Sechzig Heuler, sechzig Schicksale

Jedes Tier hat sein eigenes Schicksal, sein individuelles Leid. Doch wenn es in der Seehundaufzucht- und Forschungsstation Norden-Norddeich angekommen ist, wird nicht zurück geschaut, sondern nach vorn. Jetzt geht es erst einmal ums nackte Überleben, dann um die Vorbereitung auf ein artgemäßes Leben. Die eingelieferten Tiere sind meist zwischen wenigen Tagen und vier Wochen alt. Die jüngsten bekommen etwa vierzehn Tage lang einen nahrhaften Muttermilchersatz, die ihnen mittels einer Sonde verabreicht werden muss. Nach dieser Zeit werden die Jungtiere auf Heringsbrei umgestellt. Anschließend lernen sie, ganze Fische aus menschlicher Hand aufzunehmen. Damit ist die Lektion „wie esse ich was“ allerdings noch nicht ganz abgeschlossen, denn zum Überlebenstraining gehört auch das selbständige Fangen lebender Fische. Laut geltendem Tierschutzgesetz ist jedoch das Verfüttern lebendiger Wirbeltieren verboten. Das Problem, wie der Heuler trotzdem lernen kann, selbständig Beute zu machen, regelt man auf der Seehund-Station pragmatisch. Die toten Fische werden schnell, weit und hoch ins Wasser geworfen. Die jungen Seehunde verstehen schnell, worauf es ankommt, und setzen der Beute nach. Somit ist der erste Schritt zu einer erfolgreichen Jagd getan. Den Rest regeln Instinkt und wachsende Erfahrung. Haben die Seehunde nach acht bis zwölf Wochen auf der Stati­on ein Mindestgewicht von 25 kg erreicht, können sie ausgesetzt werden. Die ersten Tiere verlassen die Station meist schon im August.

   

Die Gewöhnung an den Menschen

 

Es bleibt nicht aus, dass die Tiere sich an ihren Pfleger gewöhnen, mit dem sie täglich mehrfach intensiven Kontakt vor allem über das Füttern hatten. Doch forciert wird eine Bindung an den Menschen nicht. Im Gegenteil, sie wird so weit als möglich reduziert. Die jungen Seehunde sollen später einmal ein artgemäßes Leben in Freiheit führen, wozu auch die natürliche Scheu vor dem Menschen gehört. „Die Gefahr, dass die Seehunde durch ihre Aufzucht in Menschenhand regelrecht zahm werden, besteht nicht. Sie verlieren lediglich die Scheu vor ihrem Pfleger, nicht aber vor dem Menschen allgemein. Seehunde sind sehr sensibel. Schon kleinste Störungen im Tagesrhythmus, zu schnelles Herantreten an die Becken oder ein Herantreten aus ungewohnter Richtung oder von unbekannten Personen löst ihren natürlichen Fluchtinstinkt aus, das Abtauchen“, erklärt Peter Lienau.

   

Die Forschung

Es sind längst nicht nur „Landratten“, denen das arttypische Leben und Verhalten der Seehunde relativ fremd ist. Auch in der Forschung sind noch nicht alle Hausaufgaben gemacht. So nutzt die Abteilung Forschung der Seehundaufzucht- und Forschungsstation im Rahmen der Aufzucht die Gelegenheit, diese wissenschaftliche Arbeit zu unterstützen. Allerdings, ohne Versuche zu starten. Viel mehr werden Daten erfasst und Studien begleitet. Hierzu werden die Seehunde auf der Station markiert, das heißt, sie erhalten einen Transponder (Chip) und eine gelbe Flossenmarke, die im Hinterflipper in die Schwimmhaut zwischen den Zehen gesetzt wird. So ist es möglich, einen größeren Einblick in das Leben der Seehunde in Freiheit zu bekommen, für das sich die Mitarbeiter der Seehundaufzucht- und Forschungsstation in Norden-Norddeich Tag für Tag engagieren.

 

Junge Seehunde suchen Paten

Die Aufzucht junger Seehunde ist nicht nur aufwendig, sondern auch kostspielig. Zwischen 4.000 und 5.000 Mark müssen investiert werden, bis ein Heuler selbständig und überlebensfähig ist. Alleine die Fischkosten betragen im Rahmen der Aufzucht pro Tier 500 Mark. Hinzu kommen Kosten für die Ersatzmilch, unterstützende Vitaminpräparate, Wurmkuren, Medikamente und Tierarztkosten. Eine Patenschaft über einen jungen Seehund deckt genau die Fischkosten. Paten, die bereit sind, 500 Mark zur Aufzucht eines Heulers beizusteuern, erhalten eine Urkunde mit dem Foto „ihres“ Tieres, dem sie auch einen Namen geben können. Den schönen Moment, wenn das Patenkind dem Meer wieder anvertraut wird, können die Paten miterleben. Sie werden zur Auswilderungsfahrt eingeladen. Maria, Heike, Linda, Ilka, Ema, Wibke, Heide und Franz sind Neu­zugänge in Norden-Norddeich. Sie haben im Gegensatz zu ihren Vorgängern noch keine Paten.